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Die Plattform für
wissenschaftliche Arbeiten

27.06.2022

Vom Gefängnis ins Jetzt: Aufbruch, Durchbruch

Die Projektideen für die Neutzung des Gefängnisses werden vorgestellt.

Bob Martens/TU Wien

Das Sommersemester 2022 war bei einigen Architekturstudierenden der Technischen Universität Wien geprägt von Aus- und Durchbrüchen. Ging es doch darum, neue architektonische Nutzungerspektiven für das alte, ehemalige Jugendgefängnis in Kirchberg am Wagram (Niederösterreich) aufzuzeigen. Dass auch der Schlussakt gelang, wurde am 15. Juni 2022 offensichtlich.

Es war wieder sehr konstruktiv und großartig! - Franz Aigner, geschäftsführender Gemeinderat in Kirchberg am Wagram, lobt die Kooperation mit der TU Wien, die über die Themenbörse Abschlussarbeiten angebahnt wurde. Über die präsentierten Nutzungsideen der Architekturstudierenden sagt er: "Die Gemeinde Kirchberg ist mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Die Student*innen haben die Verbesserungsvorschläge, die während des Zwischenberichtes gefallen sind, sehr gut aufgegriffen und ihre Projekte verbessert und ausgereift. Besonders positiv empfand man die Vielfalt der Projektentwürfe - kein Modell gleicht dem anderen. Die Studierenden sind auf die Bedürfnisse der Gemeinde hinsichtlich der Schaffung von Raum für Kunst/Kultur/Jugend/(Wein)Tourismus/soziales Miteinander eingegangen. Auch die Aufarbeitung der Geschichte des Hauses wurde bei vielen Konzepten sehr gut gelöst."

Langer Atem ist gefragt, Realisierung ist möglich

Es wird noch etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis tatsächlich entschieden wird, was aus dem ehemaligen Jugendgefängnis wird und welche Nutzungsideen tatsächlich umgesetzt werden. Die Kirchberger Bevölkerung erhält bereits im Sommer Gelegenheit, sich die Entwürfe und Modelle in der Galerie AugenBlick direkt in Kirchberg am Wagram am Marktplatz Nr. 27 während der Ausstellungszeit 9.7.-6.8.2022 des Projektes INS BLICKFELD RÜCKEN im Rahmen des Viertelfestival NÖ anzusehen. Die Gemeindebürgerinnen und -bürger können sich einen guten Überblick über die sinnvolle Nutzung des Leerstandes verschaffen. Aigner: "Die Entwürfe zeigen, dass eine Realisierung trotz Denkmalschutz machbar ist, durch moderne Zubauten das Gebäude nutzbar gemacht werden und an Attraktivität gewinnen kann. Gut erkennbar wird das Potential, das in diesem Gebäude steckt."

Beim Präsentationstermin im Herbst 2022 wird man lokale Akteure, Gemeindevertreter*innen, aber auch Vertreter*innen des Landes NÖ einladen. In einer anschließenden Diskussion wird sich dann vielleicht schon die Zukunft für das Gebäude zeigen. Eine Realisierung wird  aufgrund der Größe des Projektes aber doch noch einige Vorlaufzeit benötigen, schätzt Franz Aigner die Umsetzungschancen der Entwürfe der Architekturstudierenden der TU Wien ein.

Projekte mit großem Potenzial

Das sagt die Wissenschaft: Betrachtet man die vielfältigen Projektansätze zur Neuentwicklung beziehungsweise Umgestaltung des Gefangenenhauses, so wird klar, dass in nahezu allen Fällen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem historischen Hintergrund und seiner dunklen Geschichte die Grundlage allen Tuns bildet. Wie jedoch auf derlei Hintergrund zu reagieren ist, entscheiden die einzelnen Projektautorinnen und -autoren auf ihre ganz eigene Weise.

Aus Sicht der Lehrveranstaltungsleiter Bob Martens und Oliver Tschuppik sind die Entwürfe Lars Ludwig, Teresa Pühringer und Jonathan Kaserer besonders interessant. Ihre Neunutzungsvorschläge und Entwürfe tragen die Namen KULTURHAUS KIRCHBERG AM WAGRAM, HAVN und Sozialraum Kirchberg.

Im Kurzportrait - Kulturhaus Kirchberg am Wagram, Havn, Sozialraum Kirchberg

Lars Ludwig - KULTURHAUS KIRCHBERG AM WAGRAM

Für das ehemalige Gefangenenhaus in Kirchberg am Wagram wird eine Reihe an nutzungsoffenen Räumen für unterschiedliche kulturelle Veranstaltungen, Kurse oder Seminare vorgesehen. Hierzu werden die Trennwände der Zellen im ersten und zweiten Geschoss, die sich zum Garten hin orientieren, rückgebaut. Der Raum im ersten Obergeschoss erhält einen Blickbezug durch eine der Fassade vorgesetzte Verglasung zum Garten und zur Landschaft. Das denkmalgeschützte Ensemble wird darüber hinaus durch einen Gartenpavillon ergänzt. Dieser kann sowohl als Café als auch für Veranstaltungen genutzt werden. Die neue Haupterschließung des ehemaligen Gefangenenhauses erfolgt über einen neuimplementierten Zutritt im Keller, welcher vom Bewegungshof als auch über den Garten zu erreichen ist. Im hinzugefügten Gartenpavillon befinden sich zudem sanitäre Einrichtungen, welche unabhängig von den Betriebszeiten des Cafés zur Verfügung stehen. Somit kann der Garten als öffentlicher Park genutzt werden und unterstreicht sohin das Konzept eines gemeinsam genutzten Ortes.

Teresa Pühringer - HAVN - Häfn [Mundart Österreich] = Gefängnis haven [Englisch] = Zufluchtsort, Oase

Der Titel des Projektes “Havn” versteht sich als Kunstbergiff, der sich aus dem deutschsprachigen/umgangssprachlichen „Häfn“ und dem englisch sprachigen „Haven“ - ein Zufluchts- und Rückzugsort für junge Menschen - zusammensetzt. Als Gegenreaktion auf die dunkle Vergangenheit der Erziehungsanstalt soll das Gefängnis nun in ein Jugendzentrum verwandelt werden. Es wird ein Ort angedacht, an welchen sich Jugendliche zurückziehen, sich treffen, austauschen, weiterbilden und entwickeln können. Ziel ist es somit, das Bestandsgebäude zu aktivieren und neu zu beleben. Um zu vermeiden, dass sich neues Leben lediglich in einem “Anbau” entwickelt, werden einzelne Zubauten gezielt platziert, sodass eine Durchwegung innerhalb des gesamten Gebäudes entsteht. Als Zeichen der Veränderung werden die Gitter buchstäblich aufgebrochen und manch vergitterte Fenster durch Glaskuben ersetzt. Die einzelnen Räume des Gefängnisses werden dabei grundsätzlich in ihrer baulichen Struktur belassen und mit diversen Nutzungen bespielt. Das Neuhinzugefügte erweist sich dabei als Gegenpol zu jenem dunklen, engen Gefängnis der Vergangenheit. Hier herrschen Helligkeit, Leichtigkeit, Geräumigkeit und Ausblick vor.

Jonathan Kaserer - Sozialraum Kirchberg

Dieser Entwurfsansatz setzt sich mit der Geschichte bewusst kritisch auseinander. Die Ansiedlung eines Jugend- und Kulturzentrums soll dabei einen zielgerichteten Ausgleich zu den Strafformen des letzten Jahrhunderts herstellen. In Werk-, Spiel- und Bewegungsräumen soll die Auseinandersetzung mit Kultur und Kunst, Tanz, Theater und Handwerk geführt werden. Um auch ein Angebot für Erwachsene zu schaffen, werden Ausstellungsräume, Kurs- und Vortragsräume im Bestandsgebäude sowie in den Zubauten Einzel- und Gruppenmusikräume eingerichtet, welche die Möglichkeit für Musikunterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bieten. Das Gefangenenhaus wird insofern von zwei Erweiterungsbauten flankiert. Um die Strenge und Introvertiertheit des Bestandsgebäudes zu verändern, sind die Zubauten aus einer einsichtigen Fassade aus Polycarbonat ausgeführt. Der höhere Baukörper wird um ein Atrium ergänzt. Innenliegende farbige Wände setzen bewusst Akzente. 

Resümee aus wissenschaftlicher Sicht

Ob Aufarbeitung der Vergangenheit, die strategische Öffnung des Gebäudes, des Anstreben bewussten kommunikativen Austausches, das Befrieden der Vergangenheit mittels Kunst oder das bewusste zurückgeben der Baulichkeit an die Jugend - immer wieder wird bewusst, dass das Gefangenenhaus mehr als eine bloß umzubauende Immobilie darstellt.

Das Haus ist längst selbst Bestandteil der Geschichte geworden und trägt diese mehr oder minder sichtbar eingeschrieben in sich. Ihre Umgestaltung verlangt also nach einer Geschichtsfortschreibung, einem neuen Kapitel in Bezug auf die vorangegangene Historie. Gleichermaßen gilt es die in die Jahre gekommene Baulichkeit, also das physische Gerüst, in die heutige Zeit zu überführen: es zugänglich zu machen, barrierefrei - so weit möglich - auszugestalten, es zu belichten wie auch zu belüften und es mit Sanitärvorrichtungen auszustatten - kurzum, die Mauern in eine im heutigen Sinne nutzbare Baulichkeit zu verwandeln. Immer wieder begegnen einander hierbei notwendige Anforderungen und denkmalpflegerische, respektive konservatorische Ansprüche.

Es gilt von Mal zu Mal zu entscheiden, ob dem Erhalt oder dem Nutzen der Vorrang zu erteilen ist. In diesem Spanungsfeld wird es für die einzelnen Projektautoren zur Aufgabe, einen Kurs zu finden und in weiterer Folge zu halten, welcher an beiden Fronten denk- und gangbar ist. Es bleibt zu hoffen, dass dieses außergewöhnliche Spannungsfeld dazu beiträgt, dem ehemaligen Gefangenenhaus ein neues Kapitel abzuringen und es in eine hoffnungsvolle Zukunft zu überführen.

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